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Wegbereiter der visuellen Berichterstattung

Zumindest sein Foto von Alberto Giacometti auf der Hunderternote kennen alle: Der bedeutende Schweizer Autorenfotograf Ernst Scheidegger feierte kürzlich seinen 90. Geburtstag. Er gilt als einer der wichtigen Schweizer Fotografen und Fotografinnen im 20. Jahrhundert. Im Band «Schweizer Fotobücher», 2012 von der Fotostiftung Schweiz herausgegeben, ist kein einziges seiner Fotobücher besprochen. Das wirft Fragen auf. 

 

Schaufensterdekorateur wollte Ernst Scheidegger 1940 werden, weil vor ihm viele berühmte Kreative diese Ausbildung gewählt hatten. So begründet das visuelle Multitalent seine erste Berufswahl. An der Kunstgewerbeschule wurde sein Auge unter Hans Finsler für feinste Nuancen der Graustufen von Porzellan und Eiern sensibilisiert; mithilfe der Reportagefotografie und ihrem Potenzial, formale Anliegen mit inhaltlichem Engagement zu vereinen, konnte er sich als junger Fotograf vom ästhetischen Dogma seines Lehrers befreien.

Mehr als ein halbes Dutzend Berufe hat Scheidegger, der am 30. November 2013 seinen neunzigsten Geburtstag feierte, erfolgreich ausgeübt. Er gestaltete Wanderausstellungen für den Marshall-Plan, war zusammen mit seinem ehemaligen Lehrer Max Bill Dozent in Ulm, arbeitete als Fotoreporter der Agentur Magnum, die er verliess, nachdem sein Freund Werner Bischof und sein Kollege Robert Capa im Mai 1954 kurz nacheinander bei der Arbeit tödlich verunfallten.

Prägte die Bildwelt der NZZ

Als Nachfolger von Gotthard Schuh war er ab 1960 während fast 30 Jahren Bildredaktor der Wochenendbeilage der NZZ, er gründete 1962 seinen eigenen Verlag, realisierte Dokumentar- und Künstlerfilme und war Galerist und Maler. Mit über 200 eigenen Fotoreportagen und der Betreuung von Arbeiten seiner Kolleginnen und Kollegen für die NZZ ist Scheidegger ein wichtiger Wegbereiter der visuellen Berichterstattung. Mit engagierten Reportagefotografien und gut recherchierten Textbeiträgen konnten neue Zusammenhänge aufgezeigt, Hintergründe ausgeleuchtet und aktuelle Ereignisse umfassend dargestellt werden.

Mit seinen unverwechselbaren Fotografien von Alberto Giacometti in den Ateliers in Paris und im Bergell, denjenigen von Joan Miró und vielen anderen wichtigen Künstlern hat er als visueller Kommunikator auch Wesentliches für die Kunstwissenschaft geleistet. Viele seiner Bilder schufen ein verändertes Bewusstsein und vermochten den Blick auf die Welt und politische Phänomene zu erweitern. Weit über die Landesgrenzen hinaus interessierte man sich für seine Beiträge im Leitmedium NZZ.

Als «kulturelle Erinnerung» oder «zweites Gedächtnis», wie Umberto Eco die Fotografie nennt, hat sie unsere Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten geprägt – Fotografiegeschichte ist Teil der Geschichte. Ernst Scheid­egger habe in unserem Land auf das eingewirkt, was man seit 1945 visuelle Kommunikation nennt, und sei mitverantwortlich für die «Ausbildung des ästhetischen Gewissens unseres optischen Bewusstseins», so schätzte Hugo Loetscher die Wirkkraft des Gestalters ein. Zu den Früchten seines Lebens zählen elf Bildbände mit eigenen Fotografien, annähernd 50 Bücher als Herausgeber und Gestalter, 16 freie Künstler- und Dokumentarfilme und 17 Fernsehproduktionen.

Rolle der «Fotostiftung Schweiz»

In dem opulenten Band «Schweizer Fotobücher 1927 bis heute», 2012 von der Fotostiftung Schweiz herausgegeben, sucht man vergebens nach der Besprechung auch nur eines Fotobuchs von Ernst Scheidegger. «Als das Buch herauskam und Ernst Scheidegger nicht darin enthalten war, haben wir von der Stiftung Ernst-Scheidegger-Archiv der Fotostiftung Schweiz geschrieben. Wir waren sehr betroffen und gekränkt. Aber eine Reaktion ist nie gekommen», sagt der Rechtsanwalt Peter Uhlmann, Rechtsvertreter der Stiftung Ernst-Scheidegger-Archiv. Auch die Schreibende hat trotz mehrmaliger Bitte um eine Stellungnahme keine Antwort erhalten. Wie andernorts auch geht es im Umgang mit dem fotografischen Erbe der Schweiz um Geld, Macht, Prestige und Ego.

Wer darf fehlen?

Es stellt sich die Frage, wer mit öffentlichen Geldern unterstützt wird und nach der Archivierung die Vermarktung des geistigen Eigentums zu welchen Bedingungen übernehmen darf. Debatten zur Nutzung der Prädikate «schweizerisch», «Swiss Made» oder «Swiss Quality» wurden für viele Produkte und Dienstleistungen geführt. In der Fotografie stellt sich konkret die Frage, wie viele berühmte Schweizer Autorenfotografen unter der repräsentativen Bezeichnung «Schweiz» fehlen dürfen.

Mittlerweile sind es deren sechs: Werner Bischof, Paul Senn, Hans Finsler, René Burri, René Groebli und Ernst Scheidegger. Die Archive dieser sechs liegen nicht bei der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. Wissen das die Bundesräte? Wie gut ist die Verteilung öffentlicher Gelder für die Archivierung und Betreuung fotografischer Schätze geregelt, wenn immer mehr Fotografinnen und Fotografen mit dem Gedanken spielen, ihre eigene Stiftung zu gründen? Wer kann welche Ansprüche geltend machen? Wer arbeitet wann die Geschichte der Fotostiftung Schweiz seit ihrer Gründung 1971 mit wissenschaftlicher Genauigkeit auf? Eine – vielleicht längst fällige – kulturpolitische Debatte zum fotografischen Erbe der Schweiz muss eröffnet werden.

* Monica Boirar ist Fotografin und Dozentin für Fotografie. Sie schreibt derzeit ihre Dissertation über einen ehemaligen Schulkollegen Scheideggers.

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