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«Früher waren hier überall Wände»

Früher fassten die Briefträger Arnold Rüdisühli und Erich Bischof in der Hauptpost St. Gallen ihre Postsäcke. Jetzt ist ihr alter Arbeitsplatz voller Bücher. Ein Rundgang und ein technologischer Rückblick: teils flapsig, teils leicht melancholisch. 

 

Die Sankt Galler Hauptpost: Seit Jahren arbeiten die beiden Briefträger schon nicht mehr in dem Gebäude. Inzwischen ist auch die Post fast ausgezogen, nur der Schalter und die Postfächer bleiben. Am 29. Mai 1994 war Arnold Rüdisühlis und Erich Bischofs letzter Arbeitstag am Bahnhofplatz. Als die vollautomatisierte Briefsortierung eingeführt wurde, zogen sie mit 120 Kollegen an die Oberstras­se. «Damit genügend Platz für dieses Projekt vorhanden sein wird, ziehen die Briefträger aus dem ersten Stock der Hauptpost aus», stand damals in der «Ostschweiz». Die Briefträger kamen zwar nochmals ein paar Jahre zurück in den dritten Stock. Doch heute ist der letzte sortierte Postsack verschwunden. Seit Ende Februar ist die Halle im ersten Stock voller Bücher und heisst «Kantons- und Stadtbibliothek Hauptpost».

«Epochen!»

Erich und Arnold schreiten wie früher die Treppe hinauf und reden über ihren ehemaligen Arbeitsplatz. «Links war die Phil­atelie mit dem Verkaufsschalter», sagt Arnold im ersten Stock und zeigt auf das heutige Bibliothekscafé. Über die Abteilungen, die weiter hinten lagen, ist sich sein Kollege weniger sicher. Das liegt daran, dass die beiden Briefträger für verschiedene Generationen bei der Hauptpost St. Gallen stehen, obwohl sie lange zusammengearbeitet haben. «Epochen!», sagt Erich mit leichtem Pathos. Er ist 1952 geboren, begann als 16-Jähriger mit der Lehre. Seit letztem Juli ist er in Pension. Arnold ist 44, fast zwanzig Jahre jünger. Er arbeitet weiterhin als Pöstler an der Oberstrasse. 1987, als der junge Appenzeller in der Lehre war, lernte er den älteren St. Galler kennen.

Der «Nachschlag» sitzt heute in Vietnam

Die Säulenräume im ersten Stock sind heute hell, weiss und riesengross. Früher seien überall Wände, dicke Türen, Sortier­tische und Holzregale gewesen. «In der Ecke nach Norden war der Chef und sein Stellvertreter. Da standen einfach zwei Pulte im selben Raum.» Später kam eine Glaswand dazwischen. Gleich da war auch der «Nachschlag», wo ein Beamter nachforschte, wo die falsch oder ungenügend adressierte Post hin sollte. Erich Bischof hat eine Geschichte: «Ich hatte die Tour am Rosenberg, zur Universität, und einmal kamen über 200 Werbebriefe an Professoren, die es in St. Gallen gar nicht gab. Einer davon hatte einen sehr lustigen Namen.» Dieser «Professor» ist den Kollegen immer noch ein Begriff. Nur das Entziffern läuft nicht mehr wie früher: Heute werden eingescannte unleserliche Handschriften auf Schweizer Paketen von Postmitarbeitenden in Vietnam gelesen.

Zettelkasten
Erich und Arnold zeigen, wo früher ihre Garderobe war, erinnern sich beim Abschreiten von Büchergestellen an Chefs, Kolleginnen und Anekdoten. Sie erzählen von den Zeitungen, die früher alle ohne Adresse geliefert wurden. Wer welches Abo hatte, konnte in einem Zettelkasten kontrolliert werden. «Am Rosenberg verteilten wir viel die NZZ, eine Qual mit der dicken Samstagsausgabe. Und im Bähnlerquartier Schoren die AZ, die ‹Arbeiterzeitung›», erinnert sich Erich. Die AZ gibt es nicht mehr, die dickste NZZ erscheint jetzt am Sonntag und wird von ZeitungsverträgerInnen gebracht.

Früher, vor den Maschinen, sortierten die Briefträgerinnen und Briefträger morgens ihre Post und zogen dann in ihr zugeteiltes Quartier. «Der Arbeitstag war eine Tour, jeden Tag die gleiche», erzählt Erich Bischof. Wer schneller war, hatte Glück, wer langsamer war, musste das auf die eigene Kappe nehmen. Er hat in den Jahren vor seiner Frühpensionierung noch im neuen System gearbeitet. «Mir hat das nicht mehr gefallen. Die Kundinnen und Kunden haben mir manchmal von weitem zugerufen: ‹Ja, ja, ich weiss, du hast keine Zeit!›. Das war mir zu streng», erzählt der engagierte Gewerkschafter und Präsident der Ostschweizer syndicom.

Der Bibliophilste Pöstler der Stadt

Arnold kannte die fixen Touren auch noch, jetzt müssen alle mehrere Touren kennen. Und wenn er mit dem Elektro-Dreirad zurück in den Betrieb kommt, springt er bis zum Schichtende dort ein, wo es dem Team gerade nützt: «Ich bin auch für kleinere Reparaturen am Töffpark zuständig.» Arnold ist – laut seinem Kollegen – der «bibliophilste Briefträger der Stadt». Nicht nur weil er gerne liest, vor allem Fachbücher und Sangallensia. Er hatte früher die Tour zur Vadiana: «Ich konnte dort die Zeitungsroller zwischenlagern, die wir früher benutzten, eine Art Poschti-Wägeli ...»

Internet in Bananenkisten

Erich braucht keine Bibliothek: «Ich habe selber eine, in über 500 Bananenschachteln. 15 Jahre lang habe ich auf dem Heimweg einen Stopp im Brockenhaus gemacht und Bücher gekauft.» Die stapeln sich in einem Lager in der Ex-Konservenfabrik Winkeln. «Ich wollte die Antwort auf alles im Haus haben. Ich wusste ja nicht, dass das Internet kommt!» Das Internet, das die beiden Branchen stark getroffen hat. Die Post, weil immer mehr Mails verschickt werden, während die Paketpost Tausende Onlineschnäppchen ausliefern muss. Die Bücher, weil die kleinen Buchhandlungen von den Netzgiganten zerdrückt werden und immer mehr Leute mit E-Reader lesen.

1994, als die Pöstler hier wegzogen, hatte kaum ein Privathaushalt Anschluss ans Internet. Und so schloss der damalige «Ostschweiz»-Artikel allzu optimistisch: «Mit der freien Fläche ist die St. Galler Hauptpost vorläufig für die Briefpost der Zukunft gerüstet.» Es war eine kurze Zukunft.

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