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«Ich habe hier Hunderte kommen und gehen gesehen»

Der Jahreslohn reicht nicht für eine Pensionskasse, Ausstempeln bei Computerpannen, wochenlang fällt die Arbeit ganz aus: Das Fallbeispiel des syndicom-Mitglieds Pascal L. zeigt, wie prekär die Arbeitsverhältnisse in vielen Schweizer Callcentern sind. 

 

Der 31-jährige Zürcher kennt die Branche: Pascal L.* hat schon in mehreren Callcentern in unterschiedlichen Funktionen gearbeitet. Er besitzt eine kaufmännische Ausbildung und studiert seit kurzem auf dem zweiten Bildungsweg an der Universität Freiburg i. Ue. Das Studium sei immer sein Ziel gewesen, erklärt er. Der direkte Weg sei ihm aber verschlossen geblieben, auch weil er nicht dem Bildungsbürgertum entstamme, das die entsprechenden Anreize schaffe: «Ich bin der Einzige aus der ganzen Familie, der an der Uni studiert.»

Obschon er inzwischen ein Stipendium bekommt, ist die Arbeit für ihn kein fakultatives «Jobben». Er ist auf den Zusatzverdienst angewiesen. Früher lebte er ganz von dieser Arbeit, die oft am Abend stattfindet. Viel Geld schaut dabei nicht heraus. Pascal L. arbeitet gegenwärtig an drei Abenden pro Woche, was nur rund 20 Prozent ausmacht. Er bezieht einen Stundenlohn von 21 Franken.

Harmlose Fehler

Vor einiger Zeit bekam er noch drei Franken mehr, der Lohn wurde ihm zweimal reduziert. Die Geschäftsleitung fand, er habe während Kundengesprächen Fehler gemacht. Sie waren harmlos. Einmal hat er einem älteren Mann, der sich anhand einer vorgegebenen Bewertungsskala nicht entscheiden konnte, ein paar Fragen erlassen, was einen Abzug von zwei Franken pro Stunde zur Folge hatte.

ständige kontrolle

Die Supervisoren der Firma können die Gespräche der AgentInnen jederzeit mithören, ohne dass diese erkennen, wann das passiert. In der Branche wird diese Praxis beschönigend als «Silent Monitoring» bezeichnet. In Tat und Wahrheit ist es viel mehr eine Kontrolle als eine Hilfe.

Seine Lohnreduktion erachtet Pascal L. als willkürlich. Er glaubt auch nicht, dass er durch gute Leistungen den Ausfall wettmachen kann. «Wenn sie einen Grund finden, dann setzen sie den Lohn herab und es bleibt dabei. So sparen sie Kosten auf unserem Buckel.» Dabei ist Pascal L. ein motivierter Mitarbeiter. Er pflegt einen professionellen Umgang mit den Befragten. «Ich nehme sie ernst, spreche freundlich und gebe ihnen zu verstehen, dass ich nicht aus Neugierde frage, sondern weil ich eine Arbeit erledige und dies gut machen will», so beschreibt er seinen Stil. Er betrachte die Befragten als Kunden, nicht einfach als «Milchkühe». Dies im Unterschied zum Unternehmen, das nur die Auftraggeber ernst nehme. Sein Arbeitgeber ist hauptsächlich für Banken, Versicherungen, Krankenkassen, aber auch für Telecomanbieter und öffentliche Unternehmen tätig. Das Callcenter liefert ihnen Daten darüber, wie sie und ihre Werbekampagnen beurteilt werden. Marktforschung heisst das Geschäft.

Die Callcenter selber haben keinen guten Ruf. Viele Leute fühlen sich durch die ungebeteten Anrufe belästigt und lassen das die Telefonagenten spüren. Er selber werde zwar nur selten zur Zielscheibe von Beschimpfungen, sagt Pascal L., besonders jüngere Angestellte mit weniger Erfahrung seien ihnen aber ausgesetzt: «Ich habe auch schon Tränen gesehen.»

Ausstempeln bei Absturz

Die Arbeitsbedingungen und der Lohn bieten da keinen Trost. Sie sind prekär, gelinde gesagt. In der Niederlassung, in der Pascal L. arbeitet, sind alle im Stundenlohn angestellt. Nur die Zentrale in Luzern beschäftigt Festangestellte. Der Bruttoverdienst kann laut Pascal L. von 20 Franken theoretisch bis auf 27 Franken pro Stunde ansteigen. Faktisch erreiche er aber höchstens 24 Franken. Es gebe weder einen 13. Monatslohn noch einen Jahresend-Bonus. Auch würden keine BVG-Beiträge ausbezahlt, da niemand den dazu nötigen minimalen Jahreslohn erreiche.

Kommt dazu, dass die Arbeitszeit in vielen Fällen zu Ungunsten der Mitarbeitenden interpretiert und beschnitten wird. Bei Pausen und dem Gang aufs WC müssen sie sich ausloggen, was bedeutet, dass der Zeitzähler still steht. Das Gleiche gilt für kürzere Vorbesprechungen der Arbeit und fürs Aufstarten und Herunterfahren des Computers. Sogar bei Pannen zieht die Firma die verlorene Arbeitszeit ab.

Das Einkommen schwankt auch noch stark. Im Sommer und Winter bleibt das Callcenter bis zu einen Monat geschlossen, wenn es an Aufträgen fehlt. Dann sind die Angestellten auch nicht gegen Unfallfolgen versichert. Pascal L. hat versucht, sich während dieser Zeit ohne Beschäftigung und Einkommen bei der Arbeitslosenversicherung anzumelden. Das RAV beschied ihm, bei dieser Anstellungsart seien Lohnschwankungen üblich und in Kauf zu nehmen.

Kaum einer hält es lAnge aus

Das Urteil des syndicom-Mitglieds Pascal L. über die Personalpolitik seiner Firma fällt deutlich aus: «Die Angestellten sollen da sein, wenn Aufträge ins Haus flattern, aber möglichst keine Kosten verursachen. Sie tragen die Hauptlast des unternehmerischen Risikos.» Es ist also kein Wunder, wenn die Fluktuation im Callcenter extrem hoch ist. Von zehn Personen, die die Einarbeitungskurse besuchen, bleibe nur eine mehr als drei Monate, schätzt Pascal L.: «Ich habe hier schon hunderte von Mitarbeitern gesehen.» Doch an neuen Bewerbungen scheint es nicht zu fehlen. Meistens handelt es sich um Leute in Übergangslagen, Studenten, Menschen über 50 und Pensionierte. Viele haben keine Aussicht auf eine andere Art Arbeit. Das nützt die Branche aus.

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