Interview

Wir fordern eine Zertifizierung

Interview mit Giorgio Pardini

 

Immer mehr Branchen und Unternehmen setzen auf das Prinzip Crowd- oder Clickworker, am einfachsten über eine Plattform. Zumindest ist das der Eindruck, den man gewinnt, wenn man den Medienberichten der letzten Monate folgt. Der Begriff Clickworker wurde erstmals von der NASA benutzt, als sie im Jahr 2000 die breite Öffentlichkeit aufrief, bei der Klassifizierung von Marsaufnahmen mitzuhelfen. IBM brachte 2011 das Wort Crowdworker mit ihrem «Liquid Challenge Program» endgültig ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung. Mit dem vereinfacht ausgedrückten Prinzip «mehr Freelancer, weniger Fest­angestellte» sollten 30 Prozent der Arbeitsplätze eingespart werden.

Wo stehen wir nun mit dieser Entwicklung in der Schweiz, und wie wollen wir als Gewerkschaft mit dieser Herausforderung umgehen? Giorgio Pardini, Leiter des Sektors ICT (Information and Communications Technology), nimmt Stellung.

syndicom: Im Jahr 2011 hat die Ankündigung des «Liquid Challenge Program» bei IBM grosse Wellen geworfen. Erwartet wurde ein massiver Stellenabbau und eine immer grössere Ausdehnung des Programms. Wo steht IBM dies­bezüglich heute? Setzt sie voll auf das Prinzip der Crowdworker, und reduziert sie die Stammbelegschaft immer mehr?
Giorgio Pardini: IBM setzt ständig Kostensenkungsmassnahmen um. Zum Beispiel, indem die Stamm­belegschaft restrukturiert und relokalisiert wird. Aktuell drohen bis zu 8000 Entlassungen weltweit. Damit nimmt die Gefahr zu, dass noch mehr Aufgaben ausgelagert und durch Crowdworker erledigt werden.

Wie schätzen Sie die kommende Entwicklung in der Schweiz ein?
Eine neue Studie, die von syndicom mitfinanziert wurde (siehe Seite 14 und Dossier), zeigt aufgrund einer Internetumfrage eine hohe Teil­nahme der Schweizerinnen und Schweizer in der Plattformökonomie. Knapp ein Drittel der Befragten haben im vergangenen Jahr versucht, Arbeit über Online-Plattformen zu erhalten. Von den Befragten haben 18,2 Prozent tatsächlich eine solche Arbeit gefunden. Von diesen Crowdworkern haben 12,5 Prozent geantwortet, dass dies ihre einzige Einkommensquelle sei. Die häufigsten Arbeiten, die Crowdworker in der Schweiz verrichteten, waren das Erledigen von Kleinstaufträgen und Click­working. Aufgrund des leistungsfähigen Bildungssystems und der ausgezeichneten Infrastruktur in der Schweiz ist davon auszugehen, dass Crowdworking künftig eine noch bedeutendere Rolle spielen wird.

Swisscom betreibt mit MILA bereits eine Plattform. Was sind die Erfahrungen da?
MILA verbindet den Endnutzer – z. B. eine Swisscom-Kundin – mit einem Service-­Erbringer – z. B. einem Swisscom-Servicetechniker, Elektroinstallationsbetrieb oder «Swisscom-Friend». Die Kundin kann auf MILA auswählen, von wem sie den Service beziehen will. Am meisten bezahlt sie für den Swisscom-Techniker, am wenigsten üblicherweise für den «Swisscom-Friend», also den hilfsbereiten Swisscom-Kunden.
Dies ist nichts anderes als ein Outsourcing von Aufgaben an die MILA­Crowd. Die Risiken, die sich mit einem solchen Crowdsourcing ergeben, sind vielfältig: mangelhafte Qualität der Dienstleistung, Lohn- und Sozialdumping, Schwarzarbeit und so weiter.

Wo liegen die grossen gewerkschaftlichen Herausforderungen in diesen Bereichen?
Wer garantiert eine korrekte Entschädigung und stellt sicher, dass die Rechte der Crowdworker gewährt werden? Wir sind der Auffassung, dass sowohl das Unternehmen, das Tätigkeiten an die Crowd auslagert, als auch die Crowdworking-Plattform Verantwortung zu übernehmen haben. ­Beide haben dafür zu sorgen, dass die Arbeitenden Schutz geniessen, besonders in den Bereichen Arbeits- und Lohnbedingungen, Sozialversicherungsansprüche, Scheinselbstständigkeit und geistiges Eigentum. Über die Zertifizierung von Crowdworking-Plattformen und entsprechende Labels können wir dazu beitragen, dass nur solche Plattformen zum Zug kommen, die diese Kriterien erfüllen.

Die Ausbreitung von Crowdworking ist aber auch eine Herausforderung für uns als Gewerkschaft: Wie können wir die Crowdworker besser organisieren und vernetzen, damit sie mit unserer Unterstützung ihre individuellen und kollektiven Rechte geltend machen können? Und welche spezifischen Dienstleistungen können wir ihnen bieten?

Der Bundesrat hat im Juni 2017 die Broschüre «Digi­tale Schweiz» publiziert und einen «Dialog ‹Digitale Schweiz› » einbe­rufen. Es fällt auf, dass die Arbeitnehmenden und die Fragen nach der Zukunft der Arbeit darin nur eine geringe Rolle spielen.
Tatsächlich sind wir besorgt über die einseitige Ausrichtung der Strategie des Bundesrates. Wir haben in den letzten Monaten mehrmals an verschiedenen Stellen interveniert und nun erreicht, dass syndicom im Soundingboard für die erste Konferenz des Bundes zum Thema «Digitale Schweiz» vertreten ist.

Welche Themen kann man innerhalb der Sozialpartnerschaft bzw. mit den Gesamtarbeitsverträgen regeln?
Mit der Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmen bzw. ihren Verbänden haben wir in der Schweiz ein wirkungsvolles Instrument, um schnell auf Veränderungen zu reagieren. Wenn die Sozialpartnerschaft gleichberechtigt auf Augenhöhe gelebt wird, dann können ausbalancierte Lösungen gefunden werden, die die Arbeitnehmenden stärken – ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu schmälern.

Die Digitalisierung ist eine Chance, die bewährte Sozialpartnerschaft zu erneuern und zu erweitern. In Gesamtarbeitsverträgen können beispielsweise das Recht auf Privatsphäre und Datenschutz am Arbeitsplatz, eine weitgehende Arbeitszeitsouveränität für die Arbeitnehmenden bis zur Arbeitszeitverkürzung sowie Mass­nahmen gegen die Entgrenzung der Arbeit, wie z. B. das Recht auf Abschalten, geregelt werden.

Wo müsste auf gesetzlicher Ebene angesetzt werden, um auf diese Herausforderungen reagieren zu können? Welche Ansätze schweben syndicom vor?
Der Gesetzgeber hat dafür zu sorgen, dass ein wirksames Recht auf Arbeit ­festgeschrieben wird und allen Arbeitenden – auch jenen in der Crowd – kollektive Arbeitsrechte und Sozialversicherungsansprüche gewährt werden. Damit der fortschreitenden Digitalisierung gewisse Tätigkeiten automatisiert werden, ist es entscheidend, dass die Bildung und die Arbeitslosenversicherung entsprechend ausgerichtet werden. Möglichst viele Beschäftigte sollen die Möglichkeit haben, sich für neu entstehende Tätigkeitsprofile zu qualifizieren.

Wenn Arbeiten automatisiert und nicht mehr von Lohnabhängigen erledigt werden, dann hat dies auch Folgen für das Steuersystem. Ob nun z. B. Roboter oder Daten besteuert werden – die Steuereinnahmen müssen ausreichend sein, damit alle, die kürzere oder längere Zeit aus dem Arbeitsprozess ausscheiden, eine gesicherte Existenz in Würde haben. Schliesslich müssen die Rechte der Personen an ihren Daten im Rahmen des Datenschutzes gestärkt werden: Meine Daten gehören mir!

Welche Aktivitäten hat syndicom geplant, um diese Diskussion voranzutreiben?
Unser Kongress im November ist ganz der Digitalisierung gewidmet. Wir werden dort unsere Positionen und nächsten Aktivitäten diskutieren und beschliessen.

 

 

 

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