Die zehn wichtigsten Ziele des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund wird bald von einem neuen Präsidenten oder einer Präsidentin geleitet. Welche Kämpfe sollte er oder sie vorrangig führen?
Wenn es darum geht, die grossen Herausforderungen für die Gewerkschaften in den kommenden Jahren zu skizzieren, dann stellt sich die Verteilungsfrage wieder in neuer Schärfe.
1. Lohnerhöhungen für die tieferen und mittleren Löhne
Das beginnt bei den Löhnen. In der vergangenen Dekade ist es in einem schwierigen Umfeld, geprägt durch die starke Überbewertung des Frankens, gelungen, Verschlechterungen abzuwehren. Jetzt muss aber wieder eine Offensive mit Lohnerhöhungen für die tieferen und mittleren Löhne folgen. Dafür sprechen die starke Produktivitätsentwicklung, die wieder einsetzende Teuerung und auch der Nachholbedarf der letzten Jahre. Offensive Lohnkampagnen sind für zählbare Erfolge eine wichtige Voraussetzung.
2. Mindestlöhne
Bei den Mindestlöhnen muss wieder eine neue Etappe eingeleitet werden. Eine gute Basis dafür sind die erfolgreichen Kampagnen in verschiedenen Kantonen. Bereits drei Kantone haben kantonale Mindestlöhne beschlossen. In Genf ist zudem eine Mindestlohn-Initiative eingereicht worden. Gleichzeitig ist in den Gesamtarbeitsverträgen das mit der nationalen Mindestlohn-Initiative formulierte strategische Ziel von 22 Franken pro Stunde (entspricht 4000 Franken pro Monat) nicht überall realisiert. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind günstig, hier wieder einen grossen Schritt weiterzukommen.
3. Flankierende Massnahmen Stärken
Neue Aktualität bekommt die Lohnfrage durch die von der EU-Kommission geforderte und von den freisinnigen Bundesräten mitbetriebene Schwächung der die Löhne schützenden flankierenden Massnahmen. Die Gewerkschaften sind die entscheidende Kraft bei der Verteidigung der Löhne gegen Dumping. Die Verteidigung und Stärkung der flankierenden Massnahmen ist und bleibt ein lohnpolitischer Schwerpunkt. Wie schon in der Vergangenheit ist ein starker Lohnschutz die Voraussetzung für den Erfolg und die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge.
4. Gesamtarbeitsverträge und Allgemeinverbindlichkeit Verbessern
Überhaupt müssen die Gesamtarbeitsverträge weiter gestärkt werden. Denn die Arbeitsbedingungen sind besser, wo es Gesamtarbeitsverträge gibt. Erst recht dann, wenn diese allgemeinverbindlich sind. Die Regeln über die Allgemeinverbindlichkeit müssen verbessert werden. Gute Gesamtarbeitsverträge helfen auch bei der Bewältigung neuer Herausforderungen wie der Digitalisierung.
5. Renten dank mehr AHV Verbessern
Zur Verteilungsfrage gehört der soziale Schutz durch den Sozialstaat. Die grösste Auseinandersetzung über den Sozialstaat findet in den kommenden Jahren in der Altersvorsorge statt. Die Gewerkschaften waren in den letzten schwierigen Jahrzehnten bei der Verteidigung der AHV über alles gesehen erfolgreich.
Weil die Renten der Pensionskassen aber immer schlechter werden, ohne dass das politisch gesteuert werden kann, bleibt die epochale Aufgabe, wieder eine Rentenverbesserung über die AHV einzuleiten. Die über 40 % Ja zur Volksinitiative AHVplus – die ganze lateinische Schweiz hatte zugestimmt – und die mehr als 47 % Ja zu Altersvorsorge 2020 zeigen, dass ein Erfolg näher liegt, als viele denken. Dies umso mehr, als viele Rentnerinnen und Rentner gegen Altersvorsorge 2020 gestimmt hatten, weil sie keinen Rentenzuschlag bekommen hätten.
Entscheidend für die Ausgangslage im Kampf für bessere Renten dürfte sein, ob die Zusatzfinanzierung für die AHV im Mai 2019 gelingt. Denn mit schwarzen Zahlen bei der AHV haben es die Feinde der AHV schwerer, Panikszenarien bei den AHV-Finanzen zu schüren.
6. Krankenkassenprämien eindämmen, soziale Krankentaggeld- Versicherung einführen
Zum Kapitel soziale Sicherheit gehören auch die Krankenkassenprämien, wo die Belastung der Haushalte mit unteren und mittleren Einkommen dringend eingedämmt werden muss.
Die fehlende soziale Krankentaggeldversicherung ist schliesslich bis heute die grösste Lücke bei den Sozialversicherungen. Sie müsste dringend geschlossen werden.
7. Arbeitszeiten kürzen statt verlängern
Zu den grossen Herausforderungen der kommenden Jahre zählt sodann die Arbeitszeitfrage. Aus dem Bundeshaus heraus werden die Schutznormen des Arbeitsgesetzes in einem Ausmass angegriffen, wie das überhaupt noch nie der Fall war.
Begründet wird das damit, dass das Arbeitsgesetz mit Blick auf den technologischen Wandel (Schlagwort «Digitalisierung») und neue Arbeitsformen veraltet sei. In Tat und Wahrheit ist der Schutz durch die Mindestnormen des Arbeitsgesetzes durch die enorme Verdichtung und die Gefahr der Entgrenzung der Arbeit nicht unwichtiger, sondern wichtiger geworden.
Es geht dabei nicht nur um den Gesundheitsschutz. Die Begrenzung der Arbeitszeit sorgt auch dafür, dass die Berufstätigen nicht zunehmend Gratisarbeit leisten müssen. Richtig verstanden, ist die Erfassung der Arbeitszeit im digitalen Zeitalter übrigens nicht schwieriger, sondern einfacher geworden. Zu den Herausforderungen für die nächsten Jahre gehört es, die offensiven Stossrichtungen für neue Forderungen zu bestimmen. Kürzere Wochenarbeitszeiten? Mehr Ferien? Jedenfalls sind nicht nur beim Lohn, sondern auch bei den Arbeitszeiten wieder Fortschritte für die grosse Mehrheit mit tieferen und mittleren Einkommen fällig.
8. Kündigungsschutz verbessern
Im Arbeitsrecht geht es darum, das Tabu längst fälliger Verbesserungen im Kündigungsschutz zu brechen. Zwar hat sich die Praxis der Gerichte in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen weiterentwickelt. Zum Beispiel bei Kündigungen langjähriger älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ohne eine Verbesserung des Gesetzes bleiben die Fortschritte aber von beschränkter Reichweite. Die Internationale Arbeitsorganisation hat wiederholt festgehalten, dass die Schweiz hier im Rückstand ist. Dass diese wichtige Institution mit Sitz in der Schweiz im kommenden Jahr den hundertsten Geburtstag feiert, kann dazu genutzt werden, endlich wieder einen Schritt vorwärts zu kommen.
9. Erschwinglichen Service public Stärken
Zu den gewerkschaftspolitisch wichtigen Forderungen gehört die Stärkung des Service public. Das beginnt bei der Bildung und geht über das Gesundheitswesen bis hin zu Bahn und Post. Der für alle erschwingliche Service public, also das Einstehen für einen starken Leistungsstaat, ist das Rückgrat einer demokratischen Gesellschaft.
10. Bildung und Kultur für alle
Bildung und Kultur müssen allen offenstehen. Hier entscheidet sich auch die Zukunft der Gesellschaft. Einer Gesellschaft ohne Ausgrenzung und mit Perspektiven für alle, unabhängig von der sozialen Herkunft.
Paul Rechsteiner, Präsident SGB 1998 bis 2018