Zwei Generationen. Zwei Kämpfer*innen

Generationengespräch zwischen Ruth Dreifuss und Tamara Funiciello

Ruth Dreifuss und Tamara Funiciello haben einiges gemeinsam. Sie waren beide zu Beginn ihrer politischen Karriere Mitglied des Berner Stadtrats und sind beide Vorkämpfer*innen der Gleichstellung. Ruth Dreifuss wurde 1993 die zweite Frau, die es in den Bundesrat schaffte. 1999 wurde sie zur ersten Bundespräsidentin gewählt. Tamara Funiciello war Juso-Präsidentin (2016-19) und ist seit 2019 Nationalrätin. Beide haben einen gewerkschaftlichen Hintergrund. Patrizia Mordini, Leiterin Gleichstellung bei syndicom, traf sie zu einem Gespräch.
 

 

Wie hast du, Ruth, die Einführung des Frauenstimmrechts erlebt?
Wir waren zufrieden, wir hatten ein Menschenrecht und ein weiteres Mittel zur politischen Einflussnahme gewonnen, nach einem hundertjährigen Kampf. In Genf konnte ich seit 1960 abstimmen. Dafür hatte ich mich schon eingesetzt und ich engagierte mich stark während den folgenden 11 Jahren.

Und die Gewerkschaften?
Die Gewerkschaften haben ihren Beitrag geleistet. Die treibenden Kräfte waren jedoch die alten und die neuen Frauenbewegungen.

Welche Bedeutung hat dieses Ereignis für dich, Tamara?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir Rechte verweigert werden, nur weil ich eine Frau bin. Es ist absurd, dass das vor nicht allzu langer Zeit in der Schweiz noch so war. Es würde mich rasend machen.

Ruth Dreifuss: Das habe ich 1959 erlebt.  Die Kampagne gegen das Frauen Wahl- und Stimmrecht war eine tiefe Beleidigung. Frauen wurden als Hexen, ja politische Un-Wesen dargestellt. Es war brutal. Von Frauenseite wurde appelliert und gefordert, aber kämpferische Figuren wie Iris von Roten wurden an den Rand gedrängt. Man fürchtete, dass Provokationen dem Anliegen der Frauen schaden würden. 1971 war es klar, dass der Durchbruch gelingt. Deshalb waren die Gegenargumente gemässigt, zum Teil aber immer noch paternalistisch: „Aus Liebe für die Frau“, als würden wir für Liebe betteln, und nicht einfach ein Grundrecht erobern.

Tamara Funiciello: Spätestens seit dem Frauen­streik 2019 schreibt sich jede Partei Gleichstellung auf die Fahne. Doch wenn es ernst wird, fallen die Bürgerlichen wieder zurück. Wie jetzt bei der AHV-Revision, die zulasten der Frauen gehen soll. Ich empfinde das, ich kann es nicht anders sagen, als Verarschung und es zeigt mir, dass die Stimme der Frauen nicht wirklich ernst genommen wird.

Ruth Dreifuss: Ich empfinde das nicht so. Für mich stehen die Fortschritte im Vordergrund. Klar, es gibt noch viel zu tun. Ich würde trotzdem sagen, dass Frauen als politische Kraft ernst ­genommen werden. Es gab schon 12 Abstimmungen, wo die Männer überstimmt wurden, wie beim Eherecht, die Rassismus-Strafnorm oder die erleichterte Einbürgerung. Wenn Parteien «Pink-Washing» betreiben, dann weil sie uns als politische Kraft anerkennen. Persönlich habe ich mich in der Politik immer ernst genommen gefühlt, bei den Gewerkschaften war es etwas schwieriger. Als ich in den VPOD eintrat, waren Frauenthemen keine Priorität. Wir haben die Frauenkommission ohne Einverständnis der Gewerkschaftsspitze einberufen. Uns wurde vorgeworfen, dass wir die Gewerkschaft spalten. Wir blieben standhaft und erzwangen eine Anpassung der Statuten. Die Gewerkschaftsbewegung war auf die Männer als Alleinverdiener ausgerichtet. In gewissen Berufen waren Frauen nicht aufgenommen und es kam vor, dass Frauen ihre Stelle verloren, sobald sie heirateten. Man träumte vom Familienernährer. Die Frau sollte von der Arbeit befreit werden. Das hast du so nicht erlebt Tamara, oder? (Beide lachen.)

Tamara Funiciello: Nein, das habe ich nicht. Ich finde den Gedanken schön, dass wir heute auf euren Schultern stehen, und hoffe, dass die nächste Generation auf unseren Schultern stehen wird. Wir kämpfen um Wahlfreiheit unabhängig vom Geschlecht. Alle sollen entscheiden können, ob die Erwerbsarbeit oder Care-Arbeit Vorrang hat. Das benötigt gute Löhne, das haben die Gewerkschaften erkannt. Mehr Engagement wünsche ich mir für die Anerkennung der ­Care-Arbeit. Sie bis in die Gesamtarbeitsverträge mitzudenken, gehört zu einer feministischen Gewerkschaftspolitik. Dieser Arbeit muss Zeit eingeräumt werden. Der Kampf um die Arbeitszeit wird ein entscheidender Kampf für die Gewerkschaften. Die letzte Abstimmung dazu liegt 20 Jahre zurück.

Ruth Dreifuss: Bei der Arbeitszeit sind wir auf dem Stand der 60er-Jahre. Stillstand auch bei den Ferien. 1984 konnten wir mit der Ferien-Initiative vier Ferien­wochen erkämpfen. Wir hatten noch eine 5. Woche ab 50 gefordert. Als der Gegenvorschlag mit dem Sprung von zwei auf vier Wochen auf dem Tisch lag, hätte ich gerne die Initiative zurückgezogen. Es war nicht möglich, die Gremien davon zu überzeugen. Viele Kolleg*innen wollten einen totalen Sieg. Wir gingen also in den Abstimmungskampf und verloren schmerzhaft deutlich.

Tamara Funiciello: Das ist so. Etwas zu verteidigen im Wissen, dass es hinter den Erwartungen zurückbleibt, gehört zum Schwierigsten. Auch wenn man überzeugt ist, dass es das bestmögliche Resultat ist. Ich kann hinter Kompromissen stehen, wenn sie in die richtige Richtung zeigen und einen Fortschritt darstellen. Dennoch braucht es die Kolleg*innen, die mehr fordern, die uns sagen: Das genügt nicht. Der Druck der Strasse treibt uns an weiterzumachen.

Ruth Dreifuss: Ja, es braucht den Druck von aus­sen. Gerade muss die Klima-Bewegung abwägen, ob sie einen Kompro­miss beim CO2-Gesetz, der in die richtige Richtung geht, akzeptiert und für den nächsten Schritt aufrüstet. Oder ob sie den Kompromiss ablehnt und hofft, so ein besseres Gesetz erzwingen zu können. Meiner Meinung nach ist es nicht realistisch.

Tamara Funiciello: Auch ich hoffe, dass das CO2-Gesetz durchkommt. Ich sehe die Schwächen und dass es weiter gehen müsste. Es wäre trotz allem ein Fortschritt. Ein wichtiger Schritt auf dem richtigen Weg, den es weiterzugehen gilt.

Ruth Dreifuss: Man muss dann aber sofort ansetzen. Man darf nicht hoffen, dass sich danach alles einfach entwickelt. Man muss es mit voller Kraft vorantreiben. Sonst geht es wie bei der AHV oder beim KVG. Dort herrscht Stillstand.

Tamara Funiciello: Wie war das 1997 bei der 10. AHV-Revision? Ich habe den Eindruck, dass die Frauen gut eingebunden waren. In der aktuellen Diskussion kommen die Interessen der Frauen zu kurz. Vor allem die bürgerliche Seite täte gut daran, dies zu ändern.

Ruth Dreifuss: Heute ist es schwieriger, weil die Frauen nicht geeint sind. Es gibt Frauenstimmen, die eine Rentenaltererhöhung für Frauen befürworten. Doch du hast schon Recht. Bei der 10. AHV-Revision – und da muss ich ein Loblied auf die Gewerkschaften singen – kam der «Gegenvorschlag» auf den eher konservativen Gesetzesentwurf des Bundesrats von den Gewerkschaften und der Frauenbewegung ausserhalb des Parlaments. Das war schon ungewöhnlich, aber erfolgreich.

Tamara Funiciello: Wir sollten daraus lernen. Gewerkschaften und Frauenbewegungen sollten gemeinsam Gegenvorschläge entwickeln. Was wir heute auf dem Tisch haben, ist für die Frauen und Arbeiter*innen zu wenig. Ich bin gegen eine Erhöhung des Frauenrentenalters und ich bin prinzipiell gegen jegliche Erhöhung des Rentenalters. Es wäre nämlich eine weitere Umverteilung zugunsten der Reichsten, die in den letzten Jahren immer reicher geworden sind. Es braucht wieder eine Rückverteilung zugunsten der Arbeiter*innen.

Ruth Dreifuss: Das Rentenalter ist wichtig, doch wenn es um die Verkürzung der Arbeitszeit geht, steht für mich die Wochenarbeitszeit im Vordergrund. Um ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Care-Arbeit, Erwerbsarbeit und Familien- oder Privatleben, ist die wöchentliche Arbeitszeit der Schlüssel.

Tamara Funiciello: Völlig einverstanden. Wenn ich wählen müsste, würde ich mich ebenfalls für die Verkürzung der Wochenarbeitszeit entscheiden. Mir ist es dennoch wichtig, die Diskussion um das Rentenalter mit der um die Arbeitszeit zu verbinden.

Ruth Dreifuss: Die Arbeitsfrage ist umso wichtiger, als die Arbeitgeber unter dem Deckmantel der Flexibilisierung die Arbeitszeit ausdehnen möchten. Dazu kommt, dass die Arbeitszeit immer mehr kontrolliert und optimiert wird. Zum Beispiel bei den Pöstler*innen, die im Sekunden- oder Minutentakt kontrolliert werden. Damit geht das Soziale verloren in einem Beruf, den sie als guten und stolzen Beruf betrachten. Es wird aber Überzeugungsarbeit brauchen. Denn einige fürchten sich bei einer kürzeren Arbeitszeit vor einer weiteren Verdichtung der Arbeit.

Tamara Funiciello: Private Paketzusteller*innen arbeiten teilweise im Akkord. Das ist eine Frechheit. Es wird behauptet, dass die Arbeiter*innen profitieren, wenn sie sich ihre Arbeit selbständig einteilen können. Das stimmt schlicht nicht. Der Grossteil arbeitet länger oder dann intensiver. Unkontrollierte Flexibilisierung bringt in der Regel eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Ruth Dreifuss: Um den Bedenken der Arbeitnehmer*innen entgegenzuwirken, ist es wichtig, dass die interne Demokratie der Gewerkschaften funktioniert. Man muss auf die Kolleg*innen hören, die Tag für Tag an der Arbeitsfront schuften. Es braucht also nicht nur Überzeugungsarbeit von oben nach unten, sondern auch die Fähigkeit zuzuhören.

Tamara Funiciello: Und genau deshalb ist es wichtig, dass wir möglichst viele Kolleg*innen in den Gewerkschaften organisieren und aktivieren. Damit wir diese Diskussionen breit führen können. So können wir geeint auftreten und lassen uns nicht gegeneinander ausspielen.


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