Wir sind gefordert, eine politische Kraft zu werden

Wenn unser starker Arm es will

Unser Kerngeschäft ist die Verteidigung der Arbeitenden, mit GAV, Interventionen und auch Streiks, wenn es sein muss. Im «Kleinen» ringen wir um die grossen Dinge: um die Emanzipation des Menschen und eine gerechtere soziale Ordnung. Unter den veränderten Verhältnissen muss syndicom dafür nun stärker politisch aktiv werden.

Unter uns sind manche, die finden die Welt, wie sie gerade brodelt und taumelt, zum Fürchten. Sie führen ein paar gute Gründe an. Die misshandelte Ökologie. Trump und andere Zündler. Neue Nationalisten und Rassisten. Die nächste Finanz- und Wirtschaftskrise. Und erst die Digitalisierung ...

Finsternishändler wuchern mit dieser Lage. Ohnmacht dient den Mächtigen, weil sie die Menschen panisch, blind und dumm macht. Wir halten uns lieber daran, dass Millionen Menschen täglich an besseren Verhält nissen arbeiten. Gemeinsam und darum immer wieder erfolgreich. Wie die indische Autorin Arundhati Roy sagt: In den «kleinen» Dingen bewegen wir die grossen. Genau so ist es in unseren gewerkschaftlichen Genen eingeschrieben.   

Angriff auf Löhne und Arbeitsbedingungen

Das werden wir schon am 25. November zeigen, indem wir dazu beitragen, die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP abzuschmettern. Wie immer, wenn die SVP über Europa redet, meint sie die Innenpolitik. «Fremde Richter» sind nicht ihr Problem. Die Rechten stossen sich daran, dass wir Arbeitenden uns auch auf eine Reihe von internationalen Abkommen stützen können, wenn wir für unsere Löhne und Rechte kämpfen. Diese Verträge definieren die Grundlage der zivilisierten Menschheit, etwa das Recht, sich zu versammeln, eine Meinung öffentlich zu vertreten oder zu streiken. Indem wir Nein sagen, bekräftigen wir unsere Rechte als Bürger und Gewerkschafterinnen.

Ähnlich steht es mit den Flankierenden Massnahmen (FlaM). Der Bankenflügel der FDP, die SVP und Konzernlobbys wie Avenir Suisse nutzen die Diskussionen mit der EU als Vorwand, um die Löhne und den Schutz der Arbeitenden in der Schweiz anzugreifen. Dabei hat erst der FDP-Bundesrat Ignazio Cassis die FlaM in den Verhandlungen mit der EU ins Spiel gebracht. Denn die FlaM schützen die inländischen Beschäftigten. Sie funktionieren gut. SVP-Banker Thomas Matter hat offen gesagt, was ihn an der Personenfreizügigkeit irritiert. Die Ausländer? Nein. Die FlaM, die wachsende Zahl von Mindestlöhnen, die allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge und die vielen Kontrollen für korrekte Arbeits verhältnisse. Das sagt alles. Wir müssen die FlaM weiter verstärken, statt sie abzubauen.

Personenfreizügigkeit und FlaM sind Zwillinge. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Wer sie attackiert, zerstört unseren Wohlstand. Wenn Kapital und Waren frei zirkulieren, sollen Menschen dies genauso dürfen. Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren. Wir sind mit allen Arbeitenden solidarisch, gewiss aber nicht mit Schweizer Unternehmern, die Leute zu Hungerlöhnen ausbeuten. Aus der Geschichte haben wir gelernt: Grenzt man ausländische Kolleginnen und Kollegen aus, etwa mit einem Saisonnierstatut, bezahlen wir alle die Zeche. Nur die Aktionäre bereichern sich.

«Seid politischer!», fordern die Kolleginnen

Warum rede ich über Politik, wenn ich über die Zukunft der Gewerkschaft nachdenke? Unser Kerngeschäft sind (und bleiben) die Gesamtarbeitsverträge, das Engagement für alle in den Betrieben, die Organisation unserer Interessen als Arbeitnehmende. Doch in Versammlungen und Mails fordern immer mehr Kolleginnen und Kollegen, wir sollten politisch stärker auftreten. So auch in den Zuschriften für diese Nummer des Magazins. Sie haben recht.

Erstens, weil zum Beispiel die FlaM entscheidend für unsere künftigen Arbeitsbedingungen sind. Andere Anliegen, wie die Lohngleichheit und die Gleichstellung, bekämpfen wir täglich im GAV-Vollzug, aber die Gleichstellung braucht darüber hinaus politischen Schub. Inklusive Druck von der Strasse. So steht es um viele gewerkschaftliche Themen.

Zweitens haben sich die Kräfteverhältnisse in der Schweiz seit Mitte der 1980er-Jahre verändert. Damals galt als Regel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Gut ist, was der Volkswirtschaft nützt. Das schloss, trotz einer klaren Präferenz für das Kapital, die Arbeitnehmenden mit ein. Wahrscheinlich hat dies uns Gewerkschaften ein wenig faul gemacht. Heute, nach der neoliberalen Revolution, hat sich die Politik eine andere Grundregel gegeben: Gut ist, was den Konzernen und ihren Aktionären dient. Ein klarer Bruch mit dem sozialen Kompromiss. In den Parlamenten sitzen, bei SP und Grünen, nur noch einzelne unzweifelhafte Interessenvertreter der Arbeit nehmenden.

Also sind wir gefordert, uns zu einer politisch gestaltenden Kraft zu wandeln. Nicht leicht, aber wir können das.

«Wir sind gefordert, eine politische Kraft zu werden.»

Wollen wir Fortschritt in einem neuen sozialen Kompromiss, tun wir gut daran, Gesamtarbeitsverträge und den Aufbau von politischem Druck zusammen zu denken. Verpassen wir diese Wende, riskieren wir unsere Zukunft. Eklatantes Beispiel für diesen entscheidenden Wandel in unserer Praxis ist die digitale Revolution. In wachsendem Tempo verändert sie gerade alle Arbeits- und Lebensformen. Digitalisierung wäre eine Chance für kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeit und für die ökologische Steuerung und für einige andere erfreuliche Entwicklungen.

Doch der Bundesrat überlässt die Gestaltung den Konzernen, er hat die barbarische Digitalisierung gewählt: Zerstörung von Jobs, die Zerrüttung sicherer Arbeits verhält nisse, Entgrenzung der Arbeitszeit, Plattformarbeit, Arbeit auf Abruf, sinkende Löhne, Uber-Ökonömie, Abriss an den Sozialversicherungen, Datenplünderung, Untergang einer informierten Öffentlichkeit durch den algorith mus gesteuerten Social-Media-Wahn. 150 Jahre soziale Errungen schaften, so freuen sich die Digitalstrategen, können in wenigen Jahren weggefegt werden.

«In den kleinen Dingen bewegen wir die grossen. Das liegt in unseren Genen.»

Diese Digitalisierung nehmen wir nicht hin. In den Betrie ben leisten wir einiges für eine sozialverträgliche Digitalisierung, via Sicherung von Jobs, Weiterbildungsvereinbarungen, Kampf gegen Auslagerungen, Ausgestaltung der Arbeitsplätze. Aber die Werkzeuge von Betriebsarbeit, GAV und Sozialpartnerschaft bleiben stumpf, wenn wir nicht ein starkes Bündnis bauen, das die politische Regulierung dieser industriellen Revolution erzwingt.

Auf mindestens drei Feldern: Die Schweiz braucht einen kräftig ausgebauten, digitalen Service public (siehe Artikel Seite 23). Arbeit rund um die Uhr durch Plattformen verhindern wir mit einem universellen Arbeitsvertrag, der für jedes nicht GAV-geschützte Auftragsverhältnis gilt. Inklusive Sozialversicherungen. Und den digitalen Produktivitätsgewinn gilt es zu verteilen – durch Arbeitszeitverkürzungen.

Unser Ziel: Emanzipation des Menschen

Ein ehrgeiziges Programm. Und machen wir uns keine Illusionen: Wir werden es politisch nur durchsetzen können, wenn wir unsere gewerkschaftlichen Hausaufgaben machen. Dazu gehören: Die GAV ausbauen und ihren Geltungsbereich erweitern. Echte Gleichstellung erringen. Unsere Mobilisierungsfähigkeit erhöhen. Also Mitglieder gewinnen, vor allem Frauen und Jüngere und noch mehr Qualifizierte. Das setzt Attraktivität voraus, durch viele kleine Siege in der Verteidigung der Arbeitenden, bei den Löhnen, bei der Gleichstellung, gegen die Flexibilisierung und durch Sicherung der Jobs. Und durch bessere Dienstleistungen, etwa im Bereich der Beratung und der Bildung (Ausbau von Movendo). Die Gewerkschaft muss sich öffnen und weiter demokratisieren. Wer bei uns ist oder einsteigt, soll sich entfalten können und wissen: syndicom arbeitet an der Zukunft.

Krisen, wie der laufende Angriff auf die sozialen Errungenschaften, sind immer auch offene Momente, in denen wir unser erstes Ziel als Gewerkschaft voranbringen: Die Emanzipation des Menschen von wirtschaftlichen und sozialen Zwängen. Wenn unser starker Arm es will.

Daniel Münger, Präsident syndicom

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